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Nürtinger Lehrerseminar vor 60 Jahren
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© Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Nürtinger Zeitung (2006)

"Lebensmittelkarten und Essbesteck mitbringen"

Vor 60 Jahren begann der erste Nachkriegs-Kurs am Nürtinger Lehrerseminar: Es sollte zugleich der letzte in dieser traditionsreichen Einrichtung sein.

Von Horst Hommel


NÜRTINGEN. Eine fröhliche Runde traf sich heuer im Stucksaal der Nürtinger Fachhochschule an der Neckarsteige, herzlich willkommen geheißen von Rektor Klaus Fischer. Die mittlerweile älteren Herrschaften hatten einen wesentlichen Teil ihres Lebens in diesen geschichtsträchtigen Räumen verbracht: Sie gehörten zum ersten Kurs des traditionsreichen Nürtinger Lehrerseminars, der nach dem Zweiten Weltkrieg einberufen wurde auf den 19. November 1946. Wie sich später herausstellte, sollte es auch der letzte sein. Dieser Kurs sollte das letzte Kapitel der Historie des Lehrerseminars in der Hölderlinstadt schreiben.
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Einer, der dies ganz persönlich miterlebt hat, ist Horst Hommel, der später Rektor in Neckarhausen werden sollte.

Württemberg hat 1811 in Esslingen sein erstes Lehrerseminar gegründet und damit gute Erfahrungen gemacht. Das Konsistorium (Oberschulbehörde für die Volksschulen) wünschte schon 1837 ein zweites Seminar, weil durch das Schulgesetz von 1836 die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde und dadurch ein Lehrermangel eingetreten war.

Auch ließ die Lehrerausbildung an Privatseminaren sehr zu wünschen übrig. Das in Schulfragen immer sehr sparsame Finanzministerium überhörte zunächst den Wunsch ganz und verzögerte so die Angelegenheit.

Murrhardter Konferenz

Da meldete sich der Stiftungsrat der Stadt Nürtingen und empfahl sein Spitalgebäude als Seminar. Die Verhandlungen gingen aber noch bis zum 19. November 1841, dann genehmigte der König die Einrichtung eines zweiten Seminars.

Als das Finanzministerium zunächst ein Angebot aus Murrhardt ins Auge fasste, erklärte sich der Stiftungsrat der Stadt Nürtingen bereit, das ganze Spitalgebäude kostenlos zur Verfügung zu stellen und noch die Kosten für eine Musterschule zu übernehmen. So bekam Nürtingen das Seminar, in der Erwartung, dass dadurch ihre Volksschule eine Verbesserung erfahren könnte.

Dieses Gebäude, das nun für das Seminar bestimmt war, gehörte zu der Zeit dem reichen Nürtinger Spital, das von 1732 bis 1734 neu aufgebaut wurde, nachdem das erste Gebäude 1730 einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen war.

Nach dem Umbau und dem Aufbau eines weiteren Stockwerks wurde der Seminarbetrieb am 13. November 1843 aufgenommen. Die ersten Seminaristen kamen aus Esslingen (45) und aus Privatseminaren (27). Zum Vorstand und ersten Lehrer wurde Dr. Theodor Eisenlohr ernannt. Die Ausbildungszeit wurde auf zwei Jahre festgesetzt (dabei waren die ersten Seminaristen schon zwei Jahre in einer privaten Präparandenanstalt).

Eine neue Schule

Unweit des Seminars baute die Stadt 1844 eine neue Schule die Musterschule (heute Schlossbergschule). Diese neue Schule wurde zunächst nur von Mädchen besucht, denn für die Knaben gab es schon eine Latein- und Realschule. Außerdem war mit dem Seminar eine Taubstummenschule verbunden, um den Seminaristen Gelegenheit zu geben, auch den Unterricht mit diesen Kindern kennenzulernen. Der Rektor des Seminars war zugleich Vorstand der Taubstummenschule.

1868 wurde beim 25-jährigen Jubiläum des Seminars Dr. Eisenlohr zum Ehrenbürger der Stadt Nürtingen ernannt. Durch Anbauten erhielt das Seminar dann eine eigene Übungsschule im Haus und eine Turnhalle in der Heiligkreuzstraße.

Gleichzeitig wurde die dreijährige Seminarzeit eingeführt, veranlasst durch das Gesetz zur Besserstellung des Volksschullehrers. Das dritte Ausbildungsjahr diente dann hauptsächlich der praktischen Schularbeit an einer Seminarübungsschule.

1904 bis 1906 wurde das Seminargebäude weiter um- und ausgebaut. Es wurden zuerst Lehrerwohnungen, später Arbeits- und Schlafräume für Seminaristen eingerichtet. Übrigens: 1878 wurde an Stelle eines alten Holztors im Eingangsbereich das schöne schmiedeeiserne Tor angebracht. 1881 wurde im Seminar die Wasserleitung eingerichtet.

Das Leben im Seminar

Das Leben im Seminar war durch Lehrplan und Stundenplan sowie durch eine Hausordnung bis auf die Minute geregelt und eingeteilt. Dies erinnerte stark an die einstigen evangelischen Klosterschulen. Jeder Werktag brachte sechs bis acht Stunden Unterricht, dazu kamen noch die Übungsstunden an den Musikinstrumenten und die sogenannte Arbeitszeit.

Die Mahlzeiten wurden gemeinsam im Speisesaal eingenommen. Die Schlafräume lagen teilweise unter dem Dach. Die Stunde des Zubettgehens und des Aufstehens war genau vorgeschrieben wie eben der ganze Tagesverlauf. Freie Zeit war den Seminaristen wenig gegönnt, sie reichte nur für kleinere Spaziergänge. Wirtshausbesuche, Rauchen und Kartenspiel waren verboten, noch strenger das Anknüpfen von Liebschaften, wozu schon ein Spaziergang mit einem Mädchen gerechnet wurde.

Viele im Musikverein

Etwas Abwechslung in diesen Alltag brachten vor allem die Konzerte des Musikvereins Nürtingen, an denen die meisten Seminaristen aktiv beteiligt waren. Bald wurde aus den Musiklehrern und den Seminaristen ein Orchester gebildet, sodass musikalische Aufführungen mit eigenen Kräften möglich wurden. Auch die Gottesdienste wurden durch das Seminar bereichert. Die Kirchengemeinde hatte auch jederzeit in dem Musikoberlehrer des Seminars einen guten Organisten. Es verging aber auch keine weltliche Feier, bei welcher nicht das Seminar mit musikalischen Vorträgen beteiligt war.

Das erste Ende

Beinahe 100 Jahre bestand das Seminar und entsandte in dieser Zeit rund 4000 Lehrer an die Volksschulen Württembergs. Im Jahr 1935 wurde das Nürtinger Seminar mit anderen Seminaren zusammen aufgehoben. Die Lehrer sollten nunmehr an der neu gegründeten Lehrerhochschule in Esslingen ausgebildet werden.

So stand das große Haus in Nürtingen für einige Zeit leer, bis eine Aufbauschule darin eingerichtet wurde, welche die Aufgabe hatte, begabte Volksschüler zur Reifeprüfung zu führen. Man hoffte dabei wohl auch, mehr Studierende für die Lehrerhochschule zu gewinnen.

Quartier für die Besatzung

Das Jahr 1945 bereitete allem ein Ende. Das große Haus in der Neckarsteige war längere Zeit Quartier für die Besatzungstruppen. Die Lehrmittel- und Instrumentensammlung hatten darunter schwer zu leiden.

Endlich gelang es dem einstigen Seminarleiter Professor Dr. Löffler, die Gebäude frei zu bekommen. Und nun ging er auf ausdrücklichen Wunsch des Kultusministeriums daran, wieder eine Lehrerbildungsanstalt einzurichten. Gedacht war an eine fünfjährige Lehreroberschule, die allgemeinen Wissensstoff vermitteln sollte, und an die sich dann ein zweijähriges Studium an einem Pädagogischen Institut im eigenen Haus anschließen sollte. Damit war ein Mittelweg zwischen dem Seminar und der Lehrerhochschule gefunden.

Die erste Prüfung

Am 17. September 1946 fand in der Nürtinger Lehrerbildungsanstalt die Aufnahmeprüfung des ersten Seminarkurses nach dem Kriege statt.

Aufgefordert wurden alle Lehreranwärter der Jahrgänge 1927/28, die ihre Ausbildung zum Lehrerberuf wegen der Einberufung zur Wehrmacht unterbrechen mussten. Dazu wurden junge Männer der nachfolgenden Jahrgänge aufgerufen, sich als Kandidaten für die Aufnahme in die Lehrerbildungsanstalt zu melden. Aus diesen Bewerbern wurde dann der erste Seminarkurs gebildet und am 19. November 1946 nach Nürtingen einberufen.

Meine Einladung zu dieser Prüfung liegt mir vor, ist aber nach 60 Jahren kaum noch lesbar. Sie hat folgenden Wortlaut:

Sie werden auf 17. September 1946 um 8 Uhr nach Nürtingen, wegen Aufnahme in eine Lehrerbildungsanstalt, zu einer Aufnahmeprüfung einberufen. Wenn eine Übernachtung notwendig wird, sind Teppiche mitzubringen. Schreibzeug und linierte oder karierte Bogen DIN A4 sind mitzubringen. Für Verpflegung am 17. September wird gesorgt. An Lebensmittelkarten sind hierfür mitzubringen: 150 g Brot, 10 g Fett, 50 g Fleisch und 1 Pfund Kartoffeln oder Kartoffelmarken für 1 Tagesration. Eßbesteck mitbringen!

Ob mir dieses Tagesessen damals geschmeckt hat, weiß ich heute nicht mehr. Dagegen ist mir noch gut in Erinnerung, dass die meisten Prüfungskandidaten bestanden haben und sich freuten, dass sie am 19. November 1946 im Seminar Nürtingen ihre Vorbereitung für den Lehrerberuf fortsetzen oder neu beginnen durften.

Eine starre Ordnung

Sicher waren die neuen Seminaristen recht erstaunt, als der Tagesablauf dieses neuen Seminars nach der alten Tradition früherer Lehranstalten oder Internate wieder neu aufgelegt wurde.

Eigentlich erwarteten wir mehr studentische Freiheiten und mehr Zugeständnisse zur Eigenverantwortung als eine starre Schul- und Hausordnung aus vergangenen Jahrzehnten. Schließlich war ein Teil der Seminaristen Kriegsteilnehmer oder alle mindestens 18 Jahre alt.

Lustige Erlebnisse trotz dieser strengen Erziehung im fast geschlossenen Internat machen bei uns heute noch die Runde und bringen alle Teilnehmer unserer Kurstreffen zum Schmunzeln.

Aber auch nach der alten Tradition des Nürtinger Lehrerseminars wurden die Lehrer und Studenten unserer Zeit wieder der kulturelle Mittelpunkt der Stadt Nürtingen.

Dies geschah vor allem auf musikalischem Gebiet durch die Aufführung von Oratorien in der Stadtkirche unter Leitung des damaligen Musiklehrers und Kirchenmusikdirektors Emil Kunz, oder sommerliche Serenadenabende unter der Seminarlinde unter Leitung unseres Musiklehrers Roth. Alle Aufführungen wurden in Zusammenarbeit mit Sängern und Musikern der Stadt durchgeführt.

Fundament fürs Orchester

Nach der Auflösung der Lehrerbildungsanstalt im November 1949 blieben vor allem die Streicher des Oratorienorchesters zusammen und bildeten das Fundament für das neu gegründete Nürtinger Kammerorchester, das bis heute beachtenswerte Konzerte zu Gehör bringt.

In diesem Orchester durfte ich als ehemaliger Seminarist 45 Jahre als Bratscher mitwirken. Die meiste Zeit unter der Stabführung von Fritz Roth, dem Sohn unseres ehemaligen Musiklehrers, dem Initiator der Serenadenabende unter der Linde. Der kleine Fritz durfte damals mit zehn oder zwölf Jahren schon in der ersten Geige mitspielen.

Das unwiderrufliche Aus

Am 1. November 1949 musste die Lehrerbildungsanstalt Nürtingen ihre Pforten schließen. Wir, die Studierenden, mussten unsere Koffer packen und mit gemischten Gefühlen unser Lehrerstudium am Pädagogischen Institut in Esslingen zum erfolgreichen Ende bringen. Damit verlor die Stadt Nürtingen eine gewachsene Tradition mit viel kulturellem Hintergrund und die betroffenen Studenten einen liebenswerten Schulplatz, der fast zur zweiten Heimat geworden war.


Anmerkung: Das Nürtinger Lehrerseminar war eine wichtige Institution, die zu dem Titel Nürtingen, die Schulstadt, wesentlich beitrug und Traditionen früherer Generationen weiterentwickelte. So erfahren wir aus dem Nürtinger Heimatbuch, dass die Nürtinger Lateinschule nachweislich seit 1481 einen ausgezeichneten Ruf besaß. Als Schüler begegneten sich hier Friedrich Hölderlin (1775 bis 1784) und Friedrich Wilhelm Schelling (1783 bis 1786) zum ersten Mal. Der Rektor der Nürtinger Lateinschule war von 1845 bis 1848 Gustav Rümelin, der später der Kanzler der Universität Tübingen wurde.

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Programm-Stand: 02.04.2023 17:59
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